Haiku sind kurze Gedichte, die den Moment einfangen. Zur Inspiration schauen wir uns die urbanen Haiku des Künstlers Rafaël Rozendaal an. Und Arnfried Astels Kurzgedicht über ein weggeworfenes Blatt Papier.
Der in New York lebende Internetkünstler Rafaël Rozendaal erschafft grandiose Webseiten. Auf trashloop.com kann der moderne Sisyphos etwas in den virtuellen Papierkorb werfen. So oft er möchte. Das ist genauso wie ungelesene Newsletter im Posteingang löschen, sieht aber schöner aus. Oder man kann aufs Meer schauen. Beziehungsweise auf einen weißen Kreis und eine kleine, sich bewegende Fläche auf schwarzem Grund. Wenige Mittel, große Wirkung – das kann Rozendaal auch mit Worten: Er schreibt Haiku.
Der Effekt der Kurzgedichtform Haiku basiert auf Reduktion. Ursprünglich kommt das Haiku aus Japan. Es enthielt drei Zeilen mit je fünf, sieben und dann wieder fünf Moren und drehte sich um die Natur und die Jahreszeiten.
Als es im 20. Jahrhundert seinen Weg in die europäischen Sprachen fand, wurde die Zählung 5-7-5 auf die Silbenanzahl übertragen. Dass das so nicht funktioniert, weil japanische Moren und europäische Silben nicht dasselbe sind, ändert nichts an der grundsätzlichen Attraktivität des Haiku: Es geht um den Moment. Unkommentiert. Konkret. Und das geht am besten kurz.
Der Formzwang fördert hier die Kreativität. Indem wir Silben und Zeilen zählen und begrenzen, konzentrieren wir uns auf die Essenz eines Moments und überlassen die Wertung dem Leser. Sollten sich dabei genau 17 Silben ergeben, ohne dass das Ergebnis überflüssige Füllwörter oder abgeschnittene Gedanken enthält, ist das gut. Aber eben nicht wegen, sondern trotz der genau 17 Silben.
Der Dichter Arnfried Astel zum Beispiel lässt auf diese Weise – um auf den störrischen Papierkorb von weiter oben zurückzukommen – ein weggeworfenes Blatt Papier sich wieder entfalten. Und spielt damit gleichzeitig auf die Entfaltung des Bilds an, die erst im Leser stattfindet.
So kommt es nun also, dass die englischsprachigen Haiku von Rafaël Rozendaal immer aus drei Zeilen bestehen, jedoch nie das alte Schema 5-7-5 aufgreifen. Stattdessen treibt Rozendaal die Reduktion noch etwas weiter: keine Satzzeichen, keine Großbuchstaben. Doch stets eine Überraschung in der dritten Zeile, selbst wenn diese nur aus einem Wort besteht. Auch die Themen sind der urbanen Umgebung angepasst: Es geht um Käse statt Kirschblüte, um New York statt Natur und um Kakerlaken statt Gänse.
Das Haiku passt damit als Gedichtform besser zur heutigen Welt als – sagen wir – das Sonett. Die Kürze passt zur Schnelligkeit der Stadt. Eine SMS durfte gerade noch 160 Zeichen haben, ein Tweet hat nur noch 140, schnell ins Handy tippen, bevor die Ampel auf Grün springt und das Leben weitergeht. Ein Haiku ist die kurze Pause für zwischendurch, etwas Überraschendes entdecken, innehalten, nochmal genau hinschauen. Und dann wieder an die Arbeit.