Dass ein gewisser Formzwang die Kreativität fördern kann, haben wir bereits bei der Schnipselpoesie und dem Haiku gesehen. Aber diese kleinen Formzwängchen sind nichts gegen die Regeln, mit denen die Gruppe Oulipo Literatur gemacht hat.
Die literarische Gruppe Oulipo wurde 1960 gegründet. Zu ihren Mitgliedern – den sogenannten Oulipiens – gehören vor allem französischsprachige Autoren, Mathematiker und Linguisten. „Oulipo“ ist kurz für „Ouvroir de Littérature Potentielle“, also „Werkstatt für potenzielle Literatur“. Ihr Konzept basiert auf Regeln, Formzwängen und Beschränkungen. Was dabei herauskommt, zeigen die folgenden fünf inspirierenden Beispiele.
1. Ein ganzes Buch ohne „e“
Georges Perec, den wir bereits als Stadtaufschreiber kennengelernt haben, schrieb einen ganzen Roman ohne den Buchstaben „e“. Warum gerade „e“? Weil das der Vokal ist, der im Französischen am häufigsten verwendet wird. Das gilt auch fürs Deutsche. Und so gibt es von La disparition tatsächlich auch eine deutsche Übersetzung: Anton Foyls Fortgang („Das Verschwinden“ ging ja nicht, das hat zwei „e“). Der Übersetzer Eugen Helmlé hat sich der Sache angenommen und auch er stellte fest, dass dieses „Sprachkorsett“ eben nicht nur Einengung bedeutet, sondern gleichzeitig auch Halt bietet und zur Stütze wird1. Hier kann man sich die ersten Seiten mal anschauen.
2. Ein ganzes Buch nur mit „e“
Ein paar Jahre später hat Perec das Gegenstück zu La disparition vorgelegt: Im Roman Les revenentes benutzt er auf über hundert Seiten keinen anderen Vokal als das „e“. Das ist dann wohl doch ein wenig zu heftig, hier gibt es keine deutsche Übersetzung. Allerdings muss man dazusagen, dass Perec sich die Sprache auch ordentlich geschmeidig gemacht hat: Er bedient sich aus dem Englischen, wenn die Suche nach französischen Synonymen ins Leere führt. Oder ändert die Rechtschreibung so ab, dass die Wörter trotzdem noch gleich ausgesprochen werden, aber eben keine Vokale außer dem „e“ mehr enthalten, was im Französischen oft super funktioniert. Das könnte man jetzt schummeln nennen. Aber viel wichtiger ist doch: Statt zu sagen „Geht nicht“, hat Perec nach kreativen Lösungen für seine Aufgabe gesucht.
3. Ein Gedicht mit nur einem Buchstaben
Apropos Restriktion auf einen Buchstaben: Der Oulipien François Le Lionnais hat ein Gedicht geschrieben, das nur aus einem einzigen Buchstaben (und einem Punkt) besteht:
T.
Das lass ich mal so stehen.
4. Die gleiche Anekdote 99 Mal erzählt
Raymond Queneau hat 99 Mal die gleiche, aber nicht dieselbe Anekdote geschrieben. In Stilübungen2 (Originaltitel Exercices de style) erzählt er von einem Ereignis, dessen Banalität die perfekte Grundlage bildet, um es in 99 verschiedene Stile zu hüllen:
Rückwärts klingt das Ganze dann so:
Und so im Stile eines Telegramms:
Aber mein persönlicher Favorit ist der hier:
5. Substantive austauschen
Die Methode S+7 hat Jean Lescure erfunden: Man nehme einen Text und tausche jedes Substantiv (S) durch das Substantiv aus, das sieben Stellen weiter (+7) im Wörterbuch steht. Das Ergebnis entfaltet seine größte Wirkung, wenn der Ausgangstext noch erkannt wird. So können zum Beispiel bekannte Sprichwörter aufgebrochen werden. Der komische Effekt führt dazu, sich den eigentlichen Wortbestandteilen wieder bewusst zu werden.
Ich habe die Methode S+7 mit einem Duden und verschiedenen Wörterbüchern ausprobiert. Es hat sich herausgestellt, dass umfangreiche Werke eher weniger gut für dieses Spiel geeignet sind, da sie zu viele Varianten enthalten. Am besten ging es mit einem kleinen Langenscheidt-Japanisch-Wörterbuch für die Tasche. Und schon hat man ein paar neue Sprichwörter:
„Stete Trunkenheit höhlt die Steuer.“
Oder, gerade noch passend zur Jahreszeit:
„Wo ein Winzer ist, ist auch ein Weihnachtsbaum.“
Und jetzt schon ein Klassiker:
„Die frühe Vollkaskoversicherung fängt die Yacht.“
Mit der Sprache spielen
Auch wenn sich diese fünf Beispiele der Gruppe Oulipo vielleicht nicht immer so gemütlich lesen wie ein neuer Harry Potter, sind sie doch eine wunderbare Inspiration für alle, die sich gerne mit Sprache beschäftigen. Selbst auferlegte Regeln und Beschränkungen sind eine gute Methode, um sich der Sprache und ihrer Wirkung bewusst zu werden und auf kreative Weise mit ihr umzugehen.
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1. Vgl. Inn-Lesebuch, Georges Perec, Anton Voyls Fortgang, https://www.uibk.ac.at/literaturhaus/slh/pdf_lesebuch/innlesebuch_02-10.pdf, abgerufen am 04.01.17, S. 8.↩
2. Auch hier ist es wieder der Übersetzer Eugen Helmlé, der sich zusammen mit Ludwig Harig an eine deutsche Variante der Stilübungen gemacht hat. Zitiert wird aus: Raymond Queneau: Stilübungen; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1973.↩